Leben & Arbeiten | Weniger arbeiten – besser Leben?

April 26, 2024 6 min lesen.

Reihe von 6 Würfeln. 1er mit der Aufschrift "Day off" und 5 mit der Aufschrift "Work" der letzte Würfel wird von einer Hand umgestoßen, und man sieht bereits die neue Seite mit der Aufschrift " day off".

Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung vom November 2022 wünschen sich rund 81 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen eine Viertagewoche mit entsprechend niedrigerer Wochenarbeitszeit.

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Arbeitszeit Die Viertagewoche wird heiß diskutiert. Pilotstudien in Belgien, Island oder Großbritannien erzielten bereits positive Teilergebnisse: Arbeitnehmer sind produktiver, weil weniger gestresst und seltener krank. Auch in Deutschland halten viele Beschäftigte eine verkürzte Arbeitswoche für erstrebenswert.

Von Gudrun Heurich

Von einem deutlich gesteigerten gesundheitlichen Befinden berichteten die Teilnehmer des Experiments in Großbritannien zwischen Juni und Dezember 2022 mit 70 Unternehmen und rund 3200 Beschäftigten. Sie fühlten sich ausgeglichener und entspannter, Schlafprobleme nahmen ab, Angstzustände und Müdigkeit gingen zurück. Die Verbesserungen ihrer körperlichen Gesundheit führten sie auch darauf zurück, dass sie mehr Zeit für Bewegung und Sport hatten.

Mit der Viertagewoche kommen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der viel geforderten „Work-Life-Balance“ näher. Sie macht es zudem für viele leichter, Beruf und Familie besser unter einen Hut zu bekommen und auch in puncto Gleichberechtigung bringt sie Erstaunliches zutage. Bei vielen Paaren wird immer noch das klassische Modell gelebt – der Mann arbeitet Vollzeit, die Frau und Mutter Teilzeit. Das belegt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Fast 60 Prozent der beschäftigten Frauen arbeiteten 2019 in Teilzeitjobs, sie besetzten drei Viertel aller Teilzeitstellen.

Die Viertagewoche bietet Frauen und Männern die Gelegenheit, die Aufgaben für die Familie gerechter zu verteilen. Ein Versuch in Island zeigte: Mit der Verkürzung der Arbeitswoche änderte sich die Aufgabenteilung im Haushalt – das Putzen und Kochen wurde häufiger als vorher von den Männern übernommen.

Hände an einem Laptop. Man sieht leicht transparent einen Kalender im Vordergrund.

Die Einführung der Viertagewoche erfordert sorgfältige Planung im Unternehmen. Der Arbeitgeber muss sicherstellen, dass die Arbeit gleichmäßig aufgeteilt wird und Prozesse genau analysieren, um die Potenziale für kürzere und effizientere Arbeitszeiten zu identifizieren.

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Doch nicht nur bei einzelnen Beschäftigen kann das Arbeitszeitmodell punkten. Forschende beschreiben positive Aspekte für die gesamte Wirtschaft. So bietet es Unternehmen die Möglichkeit, sich als attraktiver Arbeitgeber zu profilieren und sich einen klaren Vorteil im Wettbewerb um die besten Talente am Arbeitsmarkt zu sichern. Zur Viertagewoche rät daher auch Prof. Stefan Sell, Sozialwissenschaftler der Hochschule Koblenz, den Unternehmen, die händeringend Fachkräfte suchen. Damit könnten sie den Nachwuchs gut triggern und in der Warteliste bei den Bewerbungen deutlich nach vorn rücken.

Bietet die verkürzte Arbeitswoche also nur Vorteile? So plausibel die positiven Auswirkungen auch scheinen − die Umsetzung in der Praxis ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Der Arbeitgeber muss sicherstellen, dass die Arbeit gleichmäßig aufgeteilt wird. Er muss Prozesse genau analysieren, um die Potenziale für kürzere und effizientere Arbeitszeiten zu identifizieren. Andere Abläufe müssen eingeführt, neue Technologien angeschafft und gegebenenfalls weitere Mitarbeitende eingestellt werden. Dies kann mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden sein. Für Arbeitnehmer kann die Forderung, die gleiche Arbeit in kürzerer Zeit schaffen zu müssen, Stress verursachen.

Auch bürokratische und arbeitsrechtliche Themen können zu Hürden werden, zum Beispiel die Handhabung von Überstunden oder die Gestaltung der Arbeitsverträge. Noch fehlen hier ausreichende Erfahrungen.

Die derzeit schwierige wirtschaftliche Lage macht die Umsetzung
für viele Unternehmen nicht leichter. Zusätzlich wird der demografische Wandel in
Deutschland nicht einfach in das Arbeitszeitenmodell zu integrieren sein. Produktivität mit weniger Arbeitskräften plus kürzeren Arbeitszeiten? Diese Rechnung scheint nicht aufgehen zu können. Für manche Bereiche wie im Gesundheits- und Pflegebereich wird die Viertagewoche kaum der Weisheit letzter Schluss zu sein. Sorgfältige Planung, klare Kommunikation und die Bereitschaft der Mitarbeitenden, neue Arbeitsmodelle auszuprobieren, sind Voraussetzungen, damit Unternehmen von den Vorteilen einer verkürzten Arbeitswoche profitieren können. Solche gravierenden Veränderungen brauchen Zeit und hängen auch mit einem Gesellschaftswandel zusammen. Die aktuelle Diskussion wird auch vor dem Hintergrund von Klimawandel und Digitalisierung geführt. Ob Arbeitszeitverkürzungen für diese Herausforderungen eine Lösung sind, muss noch breiter untersucht und erforscht werden.

Die Vor- und Nachteile der Viertagewoche

Vorteile

  • Steigerung der Motivation und damit der Produktivität. Aufgaben werden effizienter erledigt.
  • Verbesserung der Work-Life-Balance. Mehr Zeit für sich, für die Familie und für sportliche Aktivitäten.
  • Weniger Krankmeldungen und Burnouts.
  • Geringere Fahrtkosten.
  • Steigerung der Attraktivität des Unternehmens und damit der Mitarbeiterbindung.
  • Energie- und Kosteneinsparungen an dem zusätzlichen freien Tag.

Nachteile

  • Beeinträchtigung der Kommunikation und der Zusammenarbeit bei unterschiedlichen Präsenzzeiten.
  • Beeinträchtigen im Kundenservice: Die verkürzte Arbeitswoche kann zu Engpässen führen.
  • Stresssituationen durch Umstellung der Arbeitsorganisation.
  • Längere Arbeitsstunden an den vier Arbeitstagen.
Ein Straßenschild mit der Aufschrift "4-DAY WORKING WEEK".

Pilotprojekte zur Viertagewoche in Belgien, Island und Großbritannien brachten positive Teilergebnisse. Arbeitnehmer waren zufriedener, produktiver und seltener krank. Auch in Deutschland wünschen sich viele Beschäftigte die verkürzte Arbeitswoche.

Foto: WD Stockphotos/stock.adobe.com

Die Wünsche der Beschäftigten

Studie der Hans-Böckler-Stiftung Für die Studie vom November 2022 wurden 2575 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die in Vollzeit arbeiten und vertraglich geregelte Arbeitszeiten haben, zu ihren Wünschen und Vorstellungen bezüglich der Viertagewoche befragt.

Das Kernergebnis:

  • Rund 81 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen wünschen sich eine Viertagewoche mit entsprechend niedrigerer Wochenarbeitszeit.
  • Knapp 73 Prozent wollen nur eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichem Lohn.
  • 8 Prozent würden ihre Arbeitszeit auch reduzieren, wenn das Entgelt geringer ausfällt.
  • 17 Prozent lehnen eine Viertagewoche ab.
  • 2 Prozent haben ihre Vollzeittätigkeit bereits auf vier Tage verteilt.
Gründe der Befragten, die sich eine Viertagewoche wünschen:
  • 97 Prozent: mehr Zeit für sich selbst.
  • 89 Prozent: mehr Zeit für ihre Familie.
  • 75 Prozent: Verringerung der Arbeitsbelastung.
  • Knapp 31 Prozent: gesundheitliche Probleme verbessern.

Gründe der Befragten, die eine Viertagewoche ablehnen:

  • 82 Prozent: an den Arbeitsabläufen würde sich nichts ändern.
  • 77 Prozent: die Arbeit ist in kürzerer Zeit nicht zu schaffen.
  • Etwa 86 Prozent: haben Spaß an der Arbeit.
  • Circa 69 Prozent: die Arbeit kann nicht einfach einen Tag ruhen.
  • Knapp 38 Prozent: müssten dann häufig für Kollegen einspringen.
  • Rund 34 Prozent: bei verkürzten Arbeitszeiten kommen sie beruflich nicht voran.
Quelle: www.boeckler.de/de/pressemitteilungen

Experiment Viertagewoche

Interview Auch in der Region wagen Unternehmen den Versuch einer Viertagewoche. Bernhard Münz führte das Arbeitszeitmodell im Januar 2024 in seinem Betrieb, der Münz GmbH in Montabaur, ein. Er berichtet über seine Erfahrungen in einem Interview mit der WIRTSCHAFT.

Wie genau sieht das Arbeitszeitmodell in Ihrem Unternehmen aus?

Für alle Vollzeit-Mitarbeitenden gilt: aus der 40-Stundenwoche wird eine 34-Stundenwoche von montags bis donnerstags, bei Teilzeitkräften entsprechend angepasst. 15 Prozent wöchentlich weniger Arbeitszeit bei vollem Gehaltsausgleich.

Sie nennen Optimierungsmaßnahmen „abs“, um die fehlende Arbeitszeit zu kompensieren. Um welche Maßnahmen handelt es sich?

abs bedeutet „anders, besser, schneller“. Bisher wurden knapp 400 Prozessoptimierungen vorgeschlagen, die teilweise direkt umgesetzt wurden, zum Teil aber erst sukzessive umgesetzt werden können, da beispielsweise Umbaumaßnahmen und Neuanschaffungen damit zusammenhängen.

Großes Optimierungspotenzial konnten wir in den Produktionsbereichen (Versand, Logistik, Schneiderei, Druckerei und Stickerei) ermitteln. Bessere und optimierte Lagerplätze verkürzen die Laufwege, größere Garnrollen der Standardfarben auf den Stickmaschinen reduzieren die Umrüstzeit und vieles mehr.

Auch in der Verwaltung konnten viele Zeitfresser wie ständig wiederkehrende Rückfragen zwischen den Abteilungen durch finale grundsätzliche Entscheidungen ersetzt werden, die jetzt auch im Handbuch nachzulesen sind.

Hervorzuheben ist auch das Handyverbot während der Arbeitszeit. Dies wurde von den Mitarbeitenden vorgeschlagen, alle waren sich einig, dass die private Nutzung des Mobiltelefons nichts am Arbeitsplatz zu suchen hat.

Sie beschreiben die Einführung der Viertagewoche als Experiment. Bedeutet das, dass Sie wieder auf das ursprüngliche Arbeitsmodell der Fünftagewoche wechseln, falls das Experiment nicht gelingt?

Ein Nichtgelingen ist nicht vorstellbar. Schon jetzt haben sich die Mitarbeitenden sehr gut an das neue Zeitmodell gewöhnt. Bei Auftragsspitzen sind alle bereit, die Mehrarbeit an einem Freitag zu erledigen, dies bleibt allerdings die Ausnahme. Sobald erkennbar ist, dass wir durch neue große Kundenprojekte langfristig mehr Zeit aufwenden müssen, werden zusätzliche Mitarbeiter eingestellt.

Ist das Experiment also gelungen?

Es gab einige positive Überraschungen nach den ersten drei Monaten: die Anzahl der Überstunden ist zurückgegangen – ein Beweis, dass wir mit den Prozessoptimierungen auf dem richtigen Weg sind. Das neue Zeitmodell hat in der Region große Wellen geschlagen und uns damit einen Wettbewerbsvorsprung bei der Bewerbersuche verschafft. Das Arbeitsklima hat sich verbessert. Die Mitarbeitenden sind hoch motiviert. Eine finale Auswertung der Krankheitstage steht noch aus, gefühlt sind diese auch zurückgegangen.

2 Herren in einem Lager, die mit Post-Its an der Wand planen.

Geschäftsführer Bernhard Münz von der Münz GmbH in Montabaur beim abs Workshop mit Versandleiter Jörg Jungwirth. Der Unternehmer führte gemeinsam mit den Mitarbeitenden zahlreiche Prozessoptimierungen ein, um die Arbeitszeit reduzieren zu können.

Foto: Münz GmbH

Haben Sie als Arbeitgeber allein über die Einführung der Viertagewoche entschieden?

Die Einführung wurde vorher mit meiner Frau und den Vertrauenspersonen des Unternehmens diskutiert. Verschiedene Modelle und das Für und Wider wurden besprochen, bevor ich als Geschäftsführer letztendlich die finale Entscheidung getroffen habe.

Gab es auch Mitarbeitende, die gegen die Einführung waren? Wenn ja, wie haben Sie deren Wünsche berücksichtigt?

Direkte Gegner dieses Modells gab es nicht, aber einige Skeptiker. Deren größte Befürchtung war ein erhöhter Anfall an Überstunden. Durch die fast 400 Optimierungen, die Vermeidung von Zeitfressern, die wir in den abs-Besprechungen aufgedeckt haben, konnten auch diese Kolleginnen und Kollegen schließlich nach den ersten Wochen im Januar überzeugt werden.

Wie werden Feiertage, Krankheit und Urlaub integriert?

Die Urlaubstage wurden entsprechend angepasst – aus 28 Tagen Jahresurlaub wurden 22 Tage plus der zusätzlich rund 50 freien Freitage im Jahr.

Können Ihre Mitarbeitenden selbst bestimmen, an welchen Tagen sie in der Viertagewoche arbeiten möchten?

Für alle Mitarbeitenden der nicht kundenrelevanten Abteilungen (Einkauf, Versand, Schneiderei, Stickerei, Druckerei, Buchhaltung, Personalabteilung, Sekretariat, Marketing) ist Freitag der verbindlich arbeitsfreie Tag. Unsere Kundenberater im Innendienst sind mit kleiner Besetzung freitags im Haus und haben dafür den Montag frei.

Handynutzung und Arbeitszeit

Im Schnitt schauen wir alle 18 Minuten auf unser Smartphone.

(Quelle: www.webcare.plus/smartphone-konzentration)

Bei einem Arbeitstag von acht Stunden = 480 Minuten, bedeutet dies, dass wir 27 mal rund eine Minute auf das Handy schauen, plus zwei Minuten, um wieder in die Produktivität zu kommen. (Annahme von Bernhard Münz). Drei Minuten mal 27 entsprechen 81 Minuten täglich. Das sind mehr als 16 Prozent der Arbeitszeit.

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