Chefsache: Lars Hennemann im Gespräch mit Modedesignerin Anja Gockel

Dezember 15, 2022 5 min lesen.

Nachhaltigkeit wird immer beliebter im Modebusiness

Sie ist einen langen Weg gegangen. Einen Weg, der nicht nur wegen der Branche, in der sie arbeitet, anspruchsvoll war. Auch aus ganz persönlichen Gründen kann Anja Gockel auf einige Aufs und Abs zurückschauen. Aber dennoch oder gerade deshalb ist sie heute, wenn man die Modedesignerin in ihrem Atelier im Mainzer Stadtteil Hartenberg-Münchfeld trifft, ganz bei sich. Sie arbeitet ganz im Moment und für ihn und strahlt eine sehr positive und einnehmende Energie aus.

Am Tag des Treffens stehen die Vorbereitungen für Gockels große Exklusivschau im Berliner Hotel Adlon an. In der Mitte eines Raumes steht ein besonderer Entwurf: ein Kleid in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb. Es soll den Schlusspunkt der Schau bilden, das geplante Gruppenbild hat Gockel bereits genau vor Augen. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles choreografiert – genau so, wie man sich so etwas typischerweise im Modebusiness vorstellt. Und doch ist, wenn man der gebürtigen Mainzerin eine Weile zuhört, dieses Bild sehr viel mehr als schöner Schein: „Ich möchte Frauen sichtbar machen, gesellschaftspolitisch und überhaupt. Gerade jetzt. Frauen halten sich oft viel zu sehr zurück und machen sich regelrecht unsichtbar. Das macht mich beinahe wütend“, sagt sie.

Designerin zwischen Schaufensterpuppen

Namhafte Kundinnen vertrauen dem Label mit dem roten Hahnenkamm

Nach einem Studium in Hamburg und am Londoner Central Saint Martin’s College of Art and Design arbeitete sie unter anderem für Vivienne Westwood, bevor sie 1996 ihr Label unter eigenem Namen mit dem markanten roten Hahnenkamm als Logo gründete. Zu ihren Kundinnen zählen unter anderem Barbara Schöneberger, Marietta Slomka und Königin Silvia von Schweden. Auch das Finale von „Germany’s Next Topmodel“ stattete sie mehrfach aus.

Das klingt alles nach einem sehr geraden Weg. Und doch verlor sich Gockel irgendwann auf ihm. „Vor einigen Jahren war ich so gut wie pleite“, sagt sie ganz offen. Zu viel Wachstum, zu viel Einkauf, zu wenig Überblick. Es war erst diese Phase, die Gockel zu der Unternehmerin werden ließ, die sie heute ist. „Ich musste mich schon ganz auf mich selbst besinnen, darauf, wer ich in Zukunft sein wollte. Durch dieses Scheitern bin ich am Ende sowohl kraftvoller als auch empathischer und ruhiger geworden“, sagt sie. Sprichts und lädt zu einer Übung ein, für die der Begriff „Armdrücken“ eigentlich ein wenig zu despektierlich ist. Aber im Grunde genommen ist es das: Sie fordert gleich beide (männlichen) Gesprächspartner auf, ihren angewinkelt in der Luft ausgestreckten Arm in Richtung Boden zu biegen. Ergebnis: keine Chance, auch nicht mit beträchtlicher Kraftaufwendung. Gockel hat sich nämlich gedanklich mittels einer fernöstlichen Technik an einen anderen Ort begeben: „Ich habe mir in diesem Moment vorgestellt, ich bin eine Mutter, die ihr Kind festhält und vor einem Sturz bewahrt.“

Nach dem "Beinahe-Crash" durchgestartet

Mit dieser gedanklichen und tatsächlichen Kraft leitet die verheiratete Mutter von vier Kindern das älteste inhabergeführte Label der deutschen Modeszene, das nach der Beinahepleite auch wirtschaftlich wieder gesundete. Bis zu der Größe, die Anja Gockel selbst für sich als richtig empfand und bis heute empfindet: 800 000 Euro Umsatz, dazu kommen die Umsätze in den Shops. Das Ganze von Mainz aus mit sechs Festangestellten und einigen Hilfskräften. „Das ist schon so ein bisschen David gegen Goliath. Aber am Ende kommt es auch in unserem Metier immer mehr auf eine Geschichte an, auf eine Aussage. Mit der haben wir 203 Millionen Kontakte im Marktwert von 3,3 Millionen Euro bekommen.“

Und nicht nur das. Seit einigen Jahren widmet sich Gockel zunehmend auch dem Thema Nachhaltigkeit. „Bei uns ist alles Made in Germany, außerdem gibt es keine reduzierten Preise. Das mag zunächst arrogant klingen, aber Rabatte sind doch das exakte Gegenteil von Nachhaltigkeit“, sagt die 53-Jährige. Mit dieser Neubesinnung kehrte der Erfolg endgültig zurück. 2017 wurde sie zur Designerin des Jahres gekürt, 2018 zur Botschafterin für Design, Mode und Kultur. 2020 zeichnete das rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerium sie als eines der 30 nachhaltigsten Unternehmen im Land aus. Zudem ist sie Gründungspräsidentin des „International Women’s Forum“, einem Netzwerk aus 7000 weltweit einflussreichen Frauen.

Mit der Nähmaschine nähen

Auch Corona hielt Gockel nicht auf. Neben den seit 2018 im Adlon stattfindenden Schauen hielt sie auch 2021, also mitten in der Pandemie, die einzige offizielle Show im Rahmen der „Frankfurt Fashion Week“ ab. In der Hauptstadt wiederum hatte sie bereits 2020 ihren Flagship Store eröffnet. Alles Erfolge, aufgrund derer man sich eigentlich zufrieden zurücklehnen könnte. Gockel ist auch zufrieden, aber Zurücklehnen in Zeiten wie diesen ist ihre Sache nicht. Im Gegenteil: „Ich bin echt froh, dass ich gerade dort bin, wo ich bin“, sagt sie mit Blick auf die Zeitläufte. Auch sie unterstützt, etwa mit den Gewinnen aus Pop-up-Stores, die Hilfe für ukrainische Flüchtlinge. „Ich war schon immer sehr freiheitsliebend, aber jetzt gehe ich jedes Thema unter dieser Überschrift noch einmal deutlich bewusster an. Wir müssen unsere Freiheit selbstbewusst leben. Wenn alle im freien Teil der Welt das nach wie vor so empfinden, dann ist das weiterhin eine Macht, an der niemand vorbeikommt.“

Mode in einer komplizierter werdenden Welt

Die Welt ist kompliziert geworden – politisch, sozial, ökologisch. Ist Mode denn dann überhaupt noch ein Thema, das seinen Stellenwert behalten kann? „Absolut. Wer sich eines meiner Kleider leistet, bekommt nicht nur etwas, das den Preis wert ist. Es ist vor allem ein Stück Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit, die sich darin ausdrückt.“ An dieser Stelle kommt sie dann nochmals auf das Thema Frauen zu sprechen: „Frauen sind oft nicht erfolgreich und selbstbewusst, weil sie Geldverdienen als etwas Schmutziges ansehen. Aber Geld ist einfach nur reine Energie, also etwas zunächst völlig Neutrales. Wer auf diese Energie verzichtet, verzichtet auf Möglichkeiten.“

Ihre Mode ist für Gockel die logische Fortsetzung des weiblichen Selbstbewusstseins, das sie sucht und fordert: „Wenn ich mir über einen Zeitraum von drei Monaten ein Kleid zunächst ausdenke und dann entwerfe, dann darf ich später die Wertschätzung dafür zurückbekommen. Für Männer ist eine solche Denkweise kein Problem. Ein Stück weit werden wir Frauen deshalb wohl denken müssen wie die Männer.“ Aber nur, um mit der Energie und den Möglichkeiten, die man so bekomme, die Welt auf weibliche Art zu verändern: „Wir müssen unsere Weiblichkeit in den Mittelpunkt stellen. Die Welt braucht authentische und mutige Frauen. Ohne weibliche Energie fehlt der Welt etwas. Das sehen wir doch gerade.“

Zur Person

Anja Gockel wurde am 16. Mai 1968 in Mainz geboren. In ihrer Heimatstadt befindet sich auch ihr Atelier. Gockel ist verheiratet und hat vier Kinder. Sie studierte von 1987 bis 1995 Modedesign an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg sowie am Central Saint Martins College of Art and Design in London. Von 1995 bis 1996 arbeitete sie für Vivienne Westwood. 1996 gründete sie ihr eigenes Label. Sie ist vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Creativity Award (2007 und 2008), der Goldenen Seidenschleife (2012) sowie seitens des VDMD als Designerin des Jahres (2017)

Zum Unternehmen

2021 bezeichnet Gockel als „wirtschaftlich bestes Jahr“. Zu 800 000 Euro Umsatz aus der Zentrale in Mainz kamen weitere 150 000 aus Köln sowie 220 000 aus Berlin. Das Label beschäftigt sechs Festangestellte sowie weitere Aushilfen. Die Kollektionen werden ausschließlich in Deutschland hergestellt und bewusst ohne Preisnachlässe verkauft, weil dies gegen die nachhaltige Philosophie Gockels verstoßen würde.

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