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Dezember 15, 2022 5 min lesen.
Mitten in der Koblenzer Altstadt, genau gesagt im Dreikönigenhaus in der Kornpfortstraße, wird Wirtschaft seit einigen Monaten grundlegend anders gedacht. Seit dem aktuellen Wintersemester residiert dort die Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Der Name ist ebenso Anspruch wie Programm. In dem 1701 erbauten Gebäude werden große Fragen der Zukunft erforscht und mit Handlungsempfehlungen versehen: Können Wachstum und Wettbewerb, so wie wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen und lehren, weiterhin die einzigen bestimmenden Faktoren in unserer Vorstellung von Wirtschaft sein? Wie macht man vielleicht stattdessen unsere Wirtschaft nachhaltiger und hält sie dennoch prosperierend?
„Die Betrachtung dieser Themen verschiebt sich aktuell in einem Ausmaß, wie ich das selbst noch vor kurzer Zeit nicht erwartet hätte“, sagt Prof. Silja Graupe. Die 46-Jährige ist Präsidentin der Hochschule und hält dort eine Professur für Ökonomie und Philosophie. Junge Menschen, so Graupe, fragten sich immer stärker nach Verantwortung und gesellschaftlichen Zusammenhängen. „Um Antworten darauf zu geben, muss man neu denken, über enge Silos hinaus.“ Das sei weit mehr als bloßer Zeitgeist: „Wir stehen an einem Punkt, wo wir uns fragen müssen, wie lange wir die unhinterfragte Ökonomisierung des Denkens auch in Forschung, Bildung und Lehre aufrecht erhalten können und sollten.“ „Fridays for Future“ sei nur ein Aspekt dieses Hinterfragens: „Mit Sicherheit ist die Bewegung eine der bekanntesten Ergebnisse dieses Hinterfragens. Es ist im Kern ein Bildungsstreik, eine Reaktion auf die vielen Krisen, die wir seit 2008, also seit Lehman, als Gesellschaft erlebt haben. Vor allem Jüngere sind mit nichts anderem als Krisen groß geworden. Das hat sie geprägt.“
Im klassischen staatlichen Hochschulbetrieb kann man, davon ist nicht nur Graupe überzeugt, die Antworten auf die kritischen Fragen deutlich schwerer finden als in einer Institution wie der Cusanus Hochschule, die deshalb aber keineswegs in bewusste Totalverweigerung zur Wirtschaft geht. Wer das glaubt oder unterstellt, missversteht den Koblenzer Ansatz gründlich. Man sucht sich vielmehr zunächst ein Stück gedankliche Freiheit, um den wirtschaftlichen Wandel und seine Folgen in dieser Freiheit zunächst radikaler denken zu können, als das an einer klassischen Riesenfakultät möglich wäre. Um danach die Resultate wieder in die Gesamtgesellschaft zurückspielen zu können. „Wir wollen hier keine neue, abgehobene Elite sein. Das ist nicht unser Ziel. Aber was wir suchen, sind starke Persönlichkeiten, die für ihre Überzeugungen einstehen und auch Widerspruch erst einmal standhalten“, betont die Präsidentin.
Für diese Zielgruppe suchten sich im Jahr 2014 mehr als 20 Personen und Institutionen aus Wissenschaft und Gesellschaft als Stiftungsgeber einen Ort. Zunächst in Bernkastel-Kues an der Mosel, in dem auch der Namensgeber der Hochschule im 15. Jahrhundert geboren worden war: Nicolaus Cusanus, ein typischer Universalgelehrter seiner Zeit, der Theologie, Philosophie und Mathematik zu einer Denkschule verwob. Unter bewusster Bezugnahme auf ihn suchte man am Ort der Gründung und seit Oktober 2021 in Koblenz akademische Autonomie. Möglich macht das der Stiftungscharakter der Hochschule. Sie gehört sich selbst, die Präsidentin ist gleichzeitig Geschäftsführerin der die Einrichtung tragenden gemeinnützigen Cusanus Treuhand GmbH. „Wir betrachten uns als zivilgesellschaftlichen Akteur. Wir sind nicht staatlich finanziert, sind aber auch keinen Großinvestoren verpflichtet“, so Graupe.
Aktuell profitieren davon etwa 150 Studierende in vier Studiengängen (drei Master, ein Bachelor). Alle nach universitären Kriterien des Bologna-Prozesses zertifiziert und somit am Ende durchlässig zu den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, an denen aktuell etwa 330 000 Menschen in Deutschland eingeschrieben sind. „Schon allein die Größenordnung zeigt, dass wir nicht in Wettbewerb treten wollen. Aber wir wollen Wege aufzeigen, die es so bislang nicht gibt“, formuliert Graupe den Anspruch. Klein, aber fein ist auch der Anspruch für die Zukunft. Graupe will gern mit der Hochschule weiterwachsen, aber nicht schrankenlos. „Das können und wollen wir nicht, es würde auch den Charakter verfremden. Vielleicht sind wir eines Tages bei 1000 Studierenden, aber dann wäre aus meiner Sicht die verkraftbare Größe tatsächlich erreicht.“
Trotz ihrer Verpflichtungen in der Verwaltung der Hochschule und gegenüber den Stiftern leistet Graupe auch ein festes Deputat in der Lehre. Auch dies habe man ganz bewusst so festgelegt. In ihrer akademischen Laufbahn hat sie sich schon frühzeitig mit der Frage nach mehr Gemeinsinn in der Ökonomie beschäftigt. „Wir folgen an vielen Stellen einem regelrecht dogmatischen Mainstream, bei dem aber die sich rapide ändernde Welt draußen bleibt. Wir lehren manchmal noch in Gleichgewichtsmodellen wie zu Newtons Zeiten. Die jungen Menschen sind aber durchaus in der Lage zu begreifen, dass sich die Welt seit Newton geändert hat und in welcher Hinsicht. Der Impuls zur Gründung der Hochschule kam 2013 von Studierenden selbst. Wir müssen also weg von einer geistigen Monokultur mit einem seit dem 19. Jahrhundert sehr verengten Begriff von Wirtschaft.“
Wenn man sich bewusst sowohl als Person als auch als Institution dergestalt positioniert, macht man sich damit möglicherweise nicht nur Freunde. Graupe ist aber zuversichtlich, dass der eingeschlagene Weg sowohl verstanden als auch akzeptiert wird. Und das ebenso in der Welt der Universitäten, wie in der der Hochschulen: „Ich hätte, ganz ehrlich, mit mehr Widerstand gerechnet. Aber ich glaube auch, dass das, was wir gerade erleben, der Anfang einer Bewegung ist. Sowohl auf persönlichen Ebenen als auch auf der von Unternehmen. Wir stellen uns ja gar nicht gegen sie, im Gegenteil. Das erkennt man auch immer mehr, weil sich immer mehr Menschen fragen: Wie kann ich die Welt prägen, ohne sie nur zu beschädigen? Das sind die Mitarbeiter von morgen.“
Am Ende – das ist Graupe ganz wichtig – verlassen auch die Cusanus-Hochschule Absolventen, die nicht nur jammern. „Sie können anpacken und vernetzt denken, aber das eben anders. Sie hinterfragen Strukturen, aber sie verstehen sehr wohl elementare Zusammenhänge der Ökonomie. Aber sie können ihr Wissen dann auch dort gezielt anwenden, wo bislang solche Fragen keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. Unsere Absolventen fragen sich etwa auch, wie Umwelt handelbar sein kann und muss.“ Wirtschaft ohne eine ethische Haltung gegenüber der Umwelt hat – auch in sozialer Hinsicht – für Graupe auf Dauer keine Zukunft mehr. Ein Ingenieur oder eine Ingenieurin, der oder die sich eine Auszeit nimmt, um danach sein oder ihr Wissen in der Solartechnik anzuwenden, sollte nach Graupes Ansicht künftig also keine Besonderheit mehr sein, sondern die Regel. „Auch den Bereich der Pflege muss man völlig neu denken“, fordert sie. Und: „Die Wissenschaft muss hier wieder mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, das hat uns auch die Pandemie gelehrt. Es hat schon auf der Titanic ab einem bestimmten Punkt nicht mehr gelangt, nur noch die Stühle auf dem Sonnendeck zu verschieben.“ Selbstbewusste Sätze, die aber nie auf eine nur andere Weise erneut dogmatisch klingen. Es erscheint vielmehr möglich, dass man im Dreikönigenhaus nicht platt vom Zeitgeist beseelt ist, sondern die Zeichen einer ganzen Zeit erkannt hat.
Name: Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung
Gegründet: 2014
Förderer: siehe www.cusanus-hochschule.de
Standort: Koblenz
Mitarbeiter: circa 35
Studierende: circa 150
https://www.cusanus-hochschule.de/
Name: Silja Graupe
Geboren: 1975
Werdegang: Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der TU Berlin Dort 2005 Promotion zu „Der Ort ökonomischen Denkens. Die Methodologie der Wirtschaftswissenschaften im Licht japanischer Philosophie“ 2009 bis 2014 Juniorprofessorin an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft 2014 Mitgründerin der Cusanus Hochschule und seither Professorin für Ökonomie und Philosophie am Institut für Ökonomie der Hochschule
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