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Februar 29, 2024 6 min lesen.
Fachkräftemangel Nicht zuletzt durch die Digitalisierung und den Klimawandel steigt der Bedarf an Fachkräften mit fundierten Kenntnissen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Tatsache ist jedoch, dass die Studierendenzahlen rückläufig sind, an den Schulen Lehrermangel herrscht und der Frauenanteil in den MINT-Fächern gering ist. Was läuft verkehrt?
Benedikt Seuss, Inhaber und Geschäftsführer der BS2 Systemhaus GmbH Koblenz, hat schon seit geraumer Zeit die Hoffnung aufgegeben, auf dem herkömmlichen Weg − also über Stellenanzeigen oder die Agentur für Arbeit − Fachkräfte für sein IT-Dienstleistungsunternehmen gewinnen zu können. „Das bleibt ohne Effekt. Wir setzen deshalb auf schnelle, niederschwellige, unkomplizierte Bewerbungen auf den Social Media-Kanälen.“ Aber selbst das führt oft nur zu einer Handvoll von Bewerbern, die meist aus einem festen Anstellungsverhältnis heraus wechseln wollen. Neue IT-Integratoren oder IT-Administratoren, die frisch in den Markt kommen, gibt es kaum, weiß Seuss. Der Markt wächst nicht, er schichtet nur noch um. „Es ist ein Verdrängungsmarkt. Ein Bewerber, der wechselt, verursacht anderswo eine Vakanz.“ Deshalb setzt Seuss in seinem IT-Systemhaus seit gut 15 Jahren auf Eigengewächse. „Wir bauen unsere Fachkräfte von morgen durch eine fundierte Ausbildung selbst auf – Fachinformatiker in Systemintegration, Administratoren oder IT-Systemelektroniker. Wir haben bisher fast alle nach der Ausbildung übernommen, die Bindung an unser Unternehmen ist groß.“ Das duale Ausbildungssystem sei dafür wie geschaffen. Denn das „Training on the job“ gleiche oft schulische Schwächen in den MINT-Fächern aus und habe bei BS2 Systemhaus oft schon große Talente hervorgebracht.
Auch Dr.-Ing. Ralf Polzin, Geschäftsführer des Technologieinstituts für Metall und Engineering in Wissen (Sieg) klagt darüber, dass es zunehmend schwierig sei, an gute Maschinenbauer, Naturwissenschaftler oder Techniker zu kommen. Um die wenigen, die es gebe, sei ein heftiger Wettbewerb entbrannt. „Heute sind die Unternehmen oder die Institute die Bewerber“, sagt Polzin. Als eine der Ursachen für das mangelnde Interesse an den MINT-Fächern sieht er einen Wandel im Umgang mit Technik. „Hat ein Jugendlicher sein Fahrrad einmal selbst repariert, hat er einen anderen Bezug zur Technik, als wenn er nur ein YouTube-Filmchen dazu anschaut.“ Er selbst sei noch mit Legosteinen und Fischertechnik aufgewachsen und habe Erfahrungen mit dem Chemiebaukasten und dem ersten eigenen Mikroskop gesammelt. Das habe sicherlich auch seine spätere Entscheidung geprägt, sich beruflich mit den Naturwissenschaften zu befassen. „Ein weiterer wichtiger Faktor sind Lehrkräfte, die es mit pädagogischem Geschick schaffen, junge Menschen im Unterricht für die Naturwissenschaften zu begeistern. Diese Fächer gelten zu Unrecht als arbeitsintensiv und schwierig. Sie können wirklich Spaß machen.“
„Ein wichtiger Faktor sind Lehrkräfte, die es mit pädagogischem Geschick schaffen, junge Menschen im Unterricht für die Naturwissenschaften zu begeistern. Diese Fächer gelten zu Unrecht als arbeitsintensiv und schwierig. Sie können wirklich Spaß machen.“
Dr.-Ing. Ralf Polzin, Geschäftsführer des Technologieinstituts für Metall und Engineering in Wissen (Sieg)
Das sieht auch Dr. Alexander Hug so, kommissarischer Leiter der AG für Informatik und ihre Didaktik am Fachbereich Informatik der Universität Koblenz. „Schülerinnen und Schüler müssen attraktiven MINT-Unterricht durch vollausgebildete Lehrkräfte in ihren Fächern erfahren. Aber leider sind Lehrkräfte häufig fachlich selbst nicht fit genug, was auch an der Art der Lehrerbildung liegt. Erst ein attraktiver MINTUnterricht weckt das Interesse“, sagt Hug. „Gerade die naturwissenschaftlichen Fächer, die vom Experiment leben, können hier einen Beitrag leisten, sofern im Unterricht überhaupt experimentiert wird. Ohne diesen Zugang sind sie tot und verkommen zu reiner Kreidephysik und Kreidechemie.“
Sein Kollege Jochen Dörr, stellvertretender Schulleiter des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer, macht eine simple Rechnung auf: „Das Problem ist die Gruppengröße. Wenn eine Klasse mit 30 Schülern 45 Minuten Zeit für Experimentalunterricht hat, kann keine Begeisterung aufkommen. Selbst in Zweiergruppen bleiben für den Lehrer gerade mal drei Minuten, um auf eine Gruppe einzugehen.“ Hug verweist darauf, dass Lehrer aus Risikogründen oftmals ganz auf Experimentalunterricht verzichten. „Dieser braucht Zeit und gute Aufsicht. Es ist ein Unterschied, ob ich vor einer Klasse mit dem Bunsenbrenner und Knallgas experimentiere oder ob ich Sprachunterricht gebe.“
„Das Problem ist die Gruppengröße. Wenn eine Klasse mit 30 Schülern 45 Minuten Zeit für Experimentalunterricht hat, kann keine Begeisterung aufkommen.“
Jochen Dörr, stellvertretender Schulleiter des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer
Hug wird sogar ärgerlich: „Ich habe kein Verständnis dafür, wenn Prominente oder auch manche Eltern damit kokettieren, man sei ja früher auch kein Mathegenie gewesen. Deshalb sei es völlig in Ordnung, wenn das eigene Kind Mathe auch nicht möge.“ So verschwende die Gesellschaft Talente, die mit einem begeisternden Unterricht und Ansporn durch die Eltern durchaus Spaß an den MINT-Fächern haben könnten. Hug, der auch Landesvorsitzender Rheinland-Pfalz im Deutschen Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts e.V. (MNU) ist, fordert, dass mindestens ein Drittel der Stunden pro Schuljahr den MINT-Fächern gehören sollten, gegebenenfalls auch nach fachlichen Schwerpunkten pro Schuljahr geordnet. Er betont außerdem, dass Digitalisierung richtig und wichtig sei. Aber gleichzeitig sollte im Elternhaus und in der Schule mehr Wert auf Grundkompetenzen wie Kopfrechnen, Überschlagsrechnen, Textverständnis und korrekte deutsche Sprache gelegt werden.
Seuss, der mit seinem Systemhaus kleinen und mittleren Unternehmen IT-Unterstützung bietet, hält es für paradox, dass die Attraktivität der IT-Branche wächst, aber gleichzeitig der Nachwuchs ausbleibt. „Die stereotype Vorstellung vom nerdigen, leicht angestaubten IT-ler, der sich im stillen Kämmerlein in seinen Quellcode vertieft, stimmt schon lange nicht mehr.“ Das heutige Berufsbild sei völlig anders. Seine gut 30 Mitarbeiter seien ständig mit den Kunden in Kontakt und an deren Bedürfnissen orientiert.
„Unsere IT-Kompetenz hilft den Kunden, Mehrwert zu schaffen. Wir sorgen in Arztpraxen dafür, dass die Abläufe für die Patientenbehandlung reibungslos funktionieren oder dass die Produktion eines Unternehmens fehlerfrei bleibt.“ Seuss glaubt auch, dass die großen Themen wie Digitalisierung und Klimawandel erkannt sind, und alle um die Wichtigkeit der Fachkräfte aus den MINT-Fächern für diese Entwicklung wissen, aber dass immer noch ein gewisses Beharrungsvermögen herrsche. „Der Generationswandel wird ein Motor sein. Heute gibt es schon viele junge Entscheider, die als ‚Digital Natives‘ groß geworden sind und nun in verantwortungsvolle Rollen hineinwachsen. Da geschieht auch viel Gutes“, meint Seuss.
Alle drei Fachleute sind sich einig, dass man jungen Menschen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik gar nicht früh genug nahebringen kann. Hug hält es für einen guten Gedanken, wenn Erzieher und Erzieherinnen in Kitas genauso wie Grundschullehrkräfte eine auf das Alter der Kinder zugeschnittene MINT-Ausbildung erhalten könnten. Seuss hält die außerschulischen Angebote wie das Kinder-College Koblenz oder die Technikcamps für Kinder der Universität Koblenz für wichtig. Dort werden Kinder und Jugendliche spielerisch an Naturwissenschaft und Technik herangeführt und der Entdeckergeist gefördert. Auch Polzin plädiert dafür, schon in der frühen Kindheit für die MINT-Berufe zu werben und fügt scherzhaft hinzu: „Vielleicht wäre es sinnvoll, die ‚Sendung mit der Maus‘ zur Pflichtveranstaltung zu machen.“
Weitere Informationen:
Zum Institut
Das Technologie-Institut für Metall und Engineering (TIME) ist ein anwendungsorientiertes Forschungs- und Technologietransferinstitut mit Sitz in Wissen/Sieg. Das TIME unterstützt insbesondere KMU durch Forschung, Erprobung und Anwendung von Simulation, Schweiß- und Fügetechniken sowie Engineering bei der Produkt- und Prozessoptimierung und der Einführung neuer Technologien.
Neben der schweißtechnischen Ausbildung bietet das TIME ein breites Angebot an werkstoffkundlichen Untersuchungen.
Weitere Informationen: www.time-rlp.de
Zum Unternehmen
Die BS2 Firmengruppe mit Sitz in Boppard-Udenhausen und Koblenz ist spezialisiert auf IT-Dienstleistungen, Datenschutz, IT-Sicherheit, Internet of Things (IoT), Sensortechnik sowie Digitalisierung im Infrastruktur- und Immobilienbereich. Das Unternehmen verfügt über 30 Mitarbeitende, die IT-Beratungs- und Betreuungsleistungen für mittelständische Unternehmen erbringen. Ziel ist der störungsarme und sichere Betrieb der digitalen Systeme oder das Hinführen von Unternehmen zur Digitalisierung. Außerdem entwickelt die BS2 Firmengruppe eigene Hardware- und Softwarelösungen in den Bereichen IoT, Sensortechnik und Digitalisierungsplattformen.
Seit mehr als 15 Jahren bildet BS2 aktiv Fachinformatiker und Systemelektroniker aus.
Weitere Informationen: bs2-computer.de
Trend
Aktuell scheiden jährlich mehr als 64 800 MINT-Akademiker aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarkt aus. In fünf Jahren wird der jährliche demografische Ersatzbedarf um 9300 auf 74 100 zunehmen. Bei den MINT-Facharbeitern beträgt der aktuelle demografische Ersatzbedarf rund 259 800 und wird in fünf Jahren um rund 12 200 auf 272 000 steigen.
Die Zahl der MINT-Studierenden im ersten Hochschulsemester 2016 lag bei rund 198 000, 2019 sank sie leicht auf 192 500 und 2022 auf nur noch 176 300.
Der Anteil der Frauen an sozialversicherungspflichtigen MINT-Berufen beläuft sich auf gerade einmal 16,1 Prozent.
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Anger, Christina / Betz, Julia / Geis-Thöne, Wido / Plünnecke, Axel, MINT-Herbstreport 2023. Gutachten für BDA und Gesamtmetall, Köln.
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